Alejandra Mantiñan, Legende Des Tango

Der argentinische Tango ist ein Tanz, dem Kontroversen definitiv nicht fremd sind. Schon zur Zeit seiner Entstehung war er umstritten. So verwundert es nicht, dass einige Tänzer oder Tänzerinnen selbst als „kontrovers“ gelten. Zu diesen Persönlichkeiten gehört die weltbekannte Tangotänzerin Alejandra Mantiñan, die inzwischen den Ruf einer lebenden Legende genießt.

Frei nach dem englischen Originaltext von Anita Flejter, Ultimate Tango/USA

Was macht den Tango zum Tango?

In seiner mehr als hundertjährigen Geschichte wurde der Tango Argentino immer wieder kritisiert. Von der Verunglimpfung als „Tanz für die Unterschicht“, was ihn aus heutiger Sicht durchaus adeln würde, bis hin zum Verbot durch den Papst reichten die Angriffe. All das hat der Tanz überstanden, doch auch heute steht er noch im Mittelpunkt von Debatten über verschiedene Themen und Sichtweisen.

Ob Geschlechterrollen, Machismo, Feminismus, Queer Tango, Akzeptanz, Freiheit oder Kreativität – all das sind Diskussionsthemen, zu denen es kontroverse Standpunkte in der weltweiten Tango Gemeinde gibt.

Überdies ist die grundsätzliche Frage, was den Tango eigentlich zum Tango macht, nach wie vor ein umstrittenes Thema. Einerseits gibt es die traditionellen Milongueros, die glauben, dass Tango auf eine bestimmte Art und Weise getanzt werden muss. Andererseits gibt es jüngere Tangotänzer, die versuchen, die Definition des Tango zu revolutionieren.

Schließlich ist der Tango Argentino eine Form des kreativen Selbstausdrucks. Aufgrund dieser Definition sollte man davon ausgehen, dass der Tango den Nonkonformismus unter den Tänzern fördert – selbst unter denen, die sich an die überlieferten Regeln halten.

Alejandra Mantiñan mit Partner
Alejandra Mantiñan mit Tanzpartner

Wer ist Alejandra Mantiñan?

Seit vielen Jahren ist Alejandra Mantiñan in der Tangowelt ein Name, den man nicht mehr vorstellen muss. Aber für diejenigen, die sie noch nicht kennen: Alejandra Mantiñan gilt als lebende Tango-Legende, die als Tänzerin mit den „magischen Füßen“ berühmt ist. Kurzum, ihr Talent und ihr Beitrag zur Tango Community sind so groß, dass ihr Name gleichbedeutend mit einer Göttin, Königin oder Ikone des Tangos ist.

Alejandra ist auch bekannt für den Humor, der ihren Tanzstil kennzeichnet. Sie liebt es, witzige Einlagen und verspielte Verzierungen zu zeigen, die sie ständig neu erfindet. Sie ist nicht nur eine fantastische Tänzerin, sondern auch eine perfekte Entertainerin. Das Publikum verehrt sie dafür!

Schon in jungen Jahren träumte Alejandra davon, als professionelle Tänzerin durch die Welt zu reisen. Obwohl sie nicht unbedingt an Tango als den Tanz dachte, den sie zu ihrer Karriere machen wollte, hielt sie nichts davon ab, ihren Träumen zu folgen – nicht einmal ein schwerer Unfall.

Dazu heißt es in einem Beitrag der argentinischen Website Tango Fashion News:

„Als Alejandra noch sehr jung war, erlitt sie einen Unfall. Doch schon bald ermutigte ihre Mutter sie zum Tanzen, um das durch den Unfall verursachte physische und psychische Trauma zu bewältigen. …

Von da an wurde ihre Beziehung zum Tanz unzerstörbar. Liebe, Leidenschaft, Hingabe und Aufopferung gelten als die entscheidenden Zutaten, mit denen sie später die größten Bühnen der Welt eroberte, wie zum Beispiel mit den Shows Tango Pasión und Tango Seducción.


Alejandra ist zweifellos eine der größten Tänzerinnen der heutigen Zeit. … Ihr Stil wird als explosiv und ausdrucksstark bei jedem Schritt beschrieben. Mit präzisen Tempowechseln, intelligenten Pausen und geschmeidigen, eleganten Bewegungen ist ihr Tanz zu einem Meisterwerk des traditionellen Tango geworden, angereichert durch die Lebenserfahrung einer empfindsamen Seele in der modernen Zeit.“

Alejandra Mantiñan und Gregorio Garrido bei einem Auftritt

Star auf den Bühnen der Welt

Abgesehen von ihren Fähigkeiten und Kenntnissen im Tangotanz sind auch ihre internationale Erfahrung und die Liste ihrer Tanzpartner bemerkenswert. In den mehr als 30 Jahren ihrer Laufbahn hatte Alejandra Mantiñan die Gelegenheit, die Bühne mit einigen der einflussreichsten und inspirierendsten Tänzer zu teilen.

Ein Beitrag von Bali Tango in Paradise listet Alejandras Partner sowie ihre Erfolge auf:

„Es ist schwer, sich eine Frau vorzustellen, die mit mehr A-Promis getanzt hat als sie. Sehen Sie sich die Liste selbst an: Fabian Salas, Gustavo Russo, Leandro Oliver, Gabriel Misse, Osvaldo Zotto, Juan Carlos Copes, Juan Corvalan, Omar Ocampo, Mariano ‘Chicho’ Frumboli, Pablo Veron, Martin Ojeda, Horacio Godoy, Diego ‘El Pajaro’ Riemer, Leandro Palou, Aoniken Quiroga, Mariano Otero, Guillermo Salvat, Gregorio Garrido …

Alejandra Mantiñan ist in über 340 Städten auf der ganzen Welt aufgetreten, hat 14 Jahre lang die Hauptrolle in der Show Tango Pasión gespielt und hat auch mit den Live-Orchestern von Osvaldo Pugliese, Horacio Salgán, Mariano Mores, Jośe Basso und Sexteto Mayor die Bühne geteilt.“

Übrigens war Alejandra auch fünf Jahre lang die Assistentin von Antonio Todaro. Für diejenigen, die es nicht wissen: Antonio Todaro war einer der kreativsten Tangotänzer, die je gelebt haben. Er liebte es, lange, scharfe, komplexe Sequenzen von auffälligen Schritten zu erfinden, die man heute noch bei vielen professionellen Tangotänzern sieht.

Alejandra war außerdem Mitglied der Jury für den Mundial de Tango de Buenos Aires (die Tango Weltmeisterschaft) sowie für viele andere Wettbewerbe auf der ganzen Welt. Wie kann es sein, dass eine scheinbar so beliebte Tangotänzerin mit all diesen Auszeichnungen und Lobeshymnen in der Tango Gemeinschaft umstritten ist?


Die Methode von Alejandra Mantiñan

Eine Besonderheit, die Alejandra Mantiñan vielleicht von anderen berühmten Tangotänzern unterscheidet, ist ihr medizinischer Hintergrund. Das ist an sich kein Grund zur Kontroverse. Allerdings ist es die Art und Weise, wie Alejandra ihr medizinisches Wissen auf den Tango anwendet, die sowohl Bewunderer als auch Kritiker auf den Plan ruft. 

Infolgedessen, dass der Tango ein Tanz für jedermann sein soll, ist ein Großteil der Kultur, die ihn umgibt, recht traditionell. Wer mit etablierten Normen oder Codigos bricht, um neue Wege zum Verständnis des Tango einzuschlagen, stößt daher manchmal auf Widerstand oder Ablehnung. 

Alejandra Mantiñan hat ihre eigene wissenschaftliche Methode des Tangotanzens eingeführt, die auf jeden Fall als Möglichkeit gesehen wird, den Status quo in Frage zu stellen. 

Alejandra im Interview mit Pepa Palazon

In einem Interview mit Pepa Palazon in ihrer Talkshow-Serie Tengo una Pregunta Para Vos erläutert Alejandra, wie sie ihre wissenschaftliche Tango Methode entwickelt hat: 

„Nun, das war nicht beabsichtigt. Eigentlich komme ich aus dem Ballett und der Medizin. Ja, aus der Physiologie. Ich habe im Schichtdienst in Krankenhäusern gearbeitet, immer in der Trauma-Rehabilitation. Und auch in meinem eigenen Tanz habe ich stets all das Wissen angewendet, das ich an der Universität erworben habe, in der Escuela Nacional de Danza, die im Unterricht auch die Grundprinzipien der Anatomie lehrt. Denn es ist klar, dass man für den Tanz wie für den Sport ein Grundwissen über Kinesiologie und Anatomie haben muss.

Als ich Lehrerin wurde, hatte ich kein Modell, an dem ich mich orientieren konnte. Also begann ich, Unterricht bei der Frau zu nehmen, die ich als meine Mentorin betrachte und die mich im Grunde dazu inspiriert hat, diese Methode zu entwickeln: Marijo Alvarez.

Dann habe ich diesem Tanz, der bis dahin als Populärkultur galt, ein wissenschaftliches Fundament gegeben. Sie sagten, man müsse sich entspannen, der Führung folgen, seine Umarmung finden und so weiter. Aber ich komme aus dem akademischen Tanz, und da fehlte mir die theoretische Grundlage. Ich versuche, die Dinge ernst zu nehmen. Das heißt nicht, dass andere Leute das nicht auch tun. Aber ich versuche zu forschen; mein Gehirn funktioniert so. Von diesem Moment an begann ich also, eine Methode zu erarbeiten, um meine Erkenntnisse den Schülern zu vermitteln.“

Alejandra erklärt, dass das, was sie entwickelt hat, „menschliche Mechanik“ ist – die Mechanik gewöhnlicher Menschen, die keine andere Erfahrung haben, als jeden Tag zur Arbeit zu gehen. Indem sie eine wissenschaftliche Methode auf den Tango anwandte, stellte Alejandra immerhin die Auffassung in Frage, dass der Tangotanz nur auf Improvisation, Spontaneität, Intuition und Gefühl beruht.

Inzwischen hat Alejandra Mantiñan mehrere Tangoschulen gegründet, deren Hauptsitz in Rom liegt. Dort unterrichten speziell ausgebildete Lehrer nach Alejandras Methode der Biomechanik.

Alejandra Mantiñan und Leandro Palou tanzen zu “Llorar por una Mujer”, Sexteto Milonguero live

Frauen als Führende

Abgesehen von den etablierten Normen ist der Tango auch ein Tanz, der festgelegte Rollen für Männer und Frauen vorsieht. Heute werden diese Rollen mit Führenden und Folgenden oder Leader und Follower zeitgemäßer definiert. Ãœberdies gibt es aktuell viele Tango-Gruppierungen, die sich für eine stärkere Einbeziehung derer einsetzen, die – unabhängig vom Geschlecht – die Rolle des Führenden oder des Folgenden übernehmen.

Sogar die Begriffe Leader und Follower werden mittlerweile in Frage gestellt, da sie zu Missverständnissen über die Verantwortung der einzelnen Tanzpartner führen können. Zum Beispiel schlägt Tango Forge vor, die Rollen von Leader und Follower in die weniger geschlechtsspezifischen Begriffe „Mark“ und „Revel“ umzubenennen.

Zu der Zeit, als Alejandra Mantiñan sich im Tango einen Namen machte, wurden solche Überlegungen negativ, ja sogar mit Feindseligkeit aufgenommen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Alejandra heftig dafür kritisiert wurde, als Führende zu tanzen. Das Queer Tango Project zeigt zwei Videos aus jener Zeit, in denen Alejandra mit weiblichen Partnerinnen tanzt. In einem davon ist sie als Mann verkleidet und tritt im traditionellen Club Gricel auf.

Im Interview bei Tengo una Pregunta Para Vos erzählt Alejandra selbst von ihren Erlebnissen:

„Ich wurde kritisiert, weil ich als Führende tanzte. Als ich zu tanzen begann, wollte ich nicht als Folgende auftreten. Ich begann als Partnerin einer Freundin, die keinen männlichen Partner hatte. Ich tanzte also als Führende. In meinen ersten 3 Jahren tanzte ich nicht als Folgende …

Wenn ich sagen müsste, warum ich nie mit dem Tango aufgehört habe, würde ich antworten, dass der Tango mich immer ich selbst sein ließ. Er hat mir die Möglichkeit gegeben, der Welt zu zeigen, dass eine Frau keinen Mann braucht, um zu überleben. Das hat der Tango mir gegeben.“
Alejandra Mantiñan Tanzt Voller Ausdruck
Alejandra Mantiñan – ausdrucksvolle Showtänzerin

Dokumentarfilm über Alejandras Leben

Der Dokumentarfilm The Tango and Me, den Regisseur Joergen Erik Assentoft über Alejandras Leben drehte, macht ihre Haltung zum Thema „Frauen als Führende“ noch deutlicher.

In einer Rezension, die im Journal Universal Cinema veröffentlicht wurde, schreibt der Autor:

„Welche Lehren können wir aus diesem Film ziehen? Er hat eine Botschaft für jeden, der den Wunsch hat, Künstler zu werden: Wenn du durchhältst und einen offenen Geist bewahrst, kannst du auf eine Art Erfolg haben, die du nie erwartet hättest. …

Aber auch für Frauen gibt es hier eine wichtige Erkenntnis. Es mag überraschen, dass sich die Tangowelt bei einer Kunstform, die von einem Mann und einer Frau lebt, viel mehr auf die Männer als auf die Frauen konzentriert. Für Alejandra war es eine echte Leistung, allein durch ihren Namen auf sich aufmerksam zu machen. Das sollte für Frauen, die den Durchbruch schaffen wollen, als Inspiration dienen. Es ist möglich, und es ist ein Ziel, das zu verfolgen sich lohnt.“

Freiheit und Akzeptanz

Bei einer weiteren, ebenso kontroversen Debatte über Alejandra Mantiñan geht es hingegen um ihre Äußerungen zur offensichtlichen Heuchelei in der Tangowelt. Obwohl Alejandra heute eine beliebte Tangotänzerin ist, musste sie sich früher mit vielen erniedrigenden und abwertenden Kommentaren auseinandersetzen, und zwar genau wegen des Tanzstils, der sie berühmt gemacht hat.

Viele Leute reden darüber, wie schwer es sein kann, Tango zu lernen und zu beherrschen. Aber Alejandras Erfahrungen zeigen, wie schwierig es ist, Freiheit und Akzeptanz in einer Gemeinschaft zu erreichen, die den Tango als Tanz vermarktet, bei dem man sich angeblich frei ausdrücken kann.

Im Gespräch mit Pepa Palazon bei Tengo una Pregunta Para Vos erzählt Alejandra dazu:

„Damals waren die Dinge hart. Nach Milongas habe ich immer geweint. Heute sehe ich keine Mädchen mehr, die das tun. Ich bin so glücklich darüber. …

Ich habe viele Male versucht, mit dem Tanzen aufzuhören, weil ich nie akzeptiert wurde. Es schmerzt mich, das zu sagen, aber ich wurde nie akzeptiert. Ich wurde immer kritisiert. Die Leute haben mich beschimpft. Sie nannten mich einen Hitzkopf, sagten, ich hätte ein Stromkabel im Hintern, all diese Dinge, die die Leute sagen, um dich herabzusetzen. Und sie taten es, weil ich anders war. …

Die meisten Verzierungen, die heute von Tänzerinnen ausgeführt werden, habe ich damals schon getanzt. Und sie sind alle entstanden, um meine Technik zu verbessern. Meine Schülerinnen fingen an, sie auf den Milongas einzusetzen, und ich auch. Ich machte seltsame Sachen. Die Leute damals haben mich verpönt und lächerlich gemacht. Sie sagten, ich würde viel mehr tun als ich sollte. Ich würde keinen Tango tanzen.“

Alejandra Mantiñan und Aoniken Quiroga tanzen zu “Buscandote”, Orquesta Pasional live

Ein freier Geist

Nach alledem ist es ermutigend zu wissen, dass Alejandra über die Kritik, die ihr entgegengebracht wurde, hinwegsehen konnte und trotzdem ihre Karriere mit viel Elan weiterverfolgte.

Inzwischen genießt Alejandra Mantiñan den Ruf, eine lebende Tango Legende zu sein. Denn viele Tangotänzer und Tänzerinnen, vor allem diejenigen, die ihr Handwerk verbessern und etwas anderes machen wollen, haben sich von ihrer Geschichte inspirieren lassen. Ihre früheren Kritiker können hingegen ihr Talent und ihre Fähigkeiten auf der Tanzfläche, die nun weltweit anerkannt sind, nicht mehr leugnen.

Auch wenn einige sie immer noch als „umstritten“ ansehen, weil sie die etablierten Regeln herausfordert, bleibt Alejandra ein freier Geist. Ihre Lebensgeschichte ist jedenfalls der beste Beweis dafür, dass es sich gelohnt hat, für ihre Überzeugungen einzustehen.

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Links

Original-Artikel in englischer Sprache auf Ultimate Tango

Interview mit Pepa Palazon in Tengo una Pregunta para Vos (Spanisch mit engl. Untertiteln)

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